News/ Bericht Hartwig Weber Frühjahr 2007
Kompetenzen in Straßenkinderpädagogik.
Bericht über meinen Aufenthalt in Kolumbien
vom 5. März bis 6. April 2007
Von Hartwig Weber
In diesen Wochen kamen außer mir weitere bedeutende Besucher nach Kolumbien, der Präsident der USA, George W. Bush, der deutsche Präsident, Horst Köhler, der reichste Mann der Welt, Bill Gates, und die katholischen Könige (los Reyes Católicos) von Spanien. Von ersterem hieß es hier, er komme mit vielen Vorschlägen im Kopf, aber wenig in der Hand. Bei mir war es ähnlich, aber niemand hat mich deswegen kritisiert. Außerdem ist Gabriel García Márquez 80 geworden.
Aber es soll hier nicht um Weltpolitik gehen. Ich gebe nur wieder, was uns im Projekt gerade besonders beschäftigt:
Die Druckmaschine ist angekommen
Die von der Heidelberger Druckmaschinen AG gespendete Maschine, ein Tiegel von 1500 kg, ist an der Normal in Copacabana glücklich angekommen. Sie ist noch in einer Holzkiste verpackt. In den nächsten Wochen wird die neue Bibliothek der Normal, ein wahrer Prachtbau, fertig. Dann zieht die Abteilung „Deutsch als Fremdsprache“ in die alte Bibliothek um, und für die Druckerei wird ein schöner, großer Platz frei, nachdem noch ein paar Wände versetzt worden sind. Die Arbeit mit der Druckmaschine kann in der zweiten Jahreshälfte beginnen.
Endlich der Durchbruch: Masterstudiengang Straßenkinderpädagogik in Kolumbien
Nun steht fest (ich höre es und glaub’s ja auch), dass der neue Studiengang (Maestria) im August 2007 an der Universität von Antioquia eingeführt wird. Zugrunde liegen die Module (Zielkompetenzen und Inhalte), die wir für den Studiengang in Heidelberg und Freiburg erarbeitet haben. (Wir suchen derzeit nach Sponsoren, die deutschen und kolumbianischen Studenten Stipendien geben.) Geplant ist, dass ein reger Austausch von Studenten und Professoren zwischen Kolumbien und Deutschland in Gang kommt. Das Beste an der neuen Entwicklung ist, dass die Leitung des Studiengangs in unserer Hand liegt: Sor Sara wird die Koordination übernehmen. Damit ist sichergestellt, dass der Studiengang sich an den Methoden orientieren wird, die wir im Projekt entwickelt und erprobt haben (Projektmethode, Forschungsorientierung, Ausgang bei eigener Felderfahrung usw.), und wir bestimmen auch mit, welche Experten aus dem ganzen Land als Dozenten eingeladen werden. Den Studiengang einzuführen und zu entwickeln, wird eine der Hauptaufgaben des neuen Centro de Competencia an der Escuela Normal sein, die dadurch ihren wissenschaftlichen Anspruch unterstreicht und vertieft. Auf längere Sicht soll die Escuela Normal Superior zu einer eigenständigen Pädagogischen Universität mit dem Profil Straßenkinderpädagogik ausgebaut werden – ein anspruchsvolles Fernziel.
Forschungsprojekt „Religion der Straße“
Manfred Ferdinand, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt aus Heidelberg, verbringt seine Semesterferien hier und führt das Forschungsvorhaben „Religion der Straße“ fort. Sein Schwerpunkt: „Konzeptionen von Zeit und Raum bei Straßenkindern“. Sor Sara hat ihm an der Normal ein eigenes Zimmer mit Internetzugang eingerichtet (einen gepolsterten Stuhl hat er sich selbst organisiert). Er arbeitet zusammen mit Studentinnen an der Erprobung ethnographischer Methoden und zieht regelmäßig mit der Gruppe ins Barrio Triste, wo er sich mit einer Gallada von etwa 15 Kids bereits bestens „familiarisiert“ hat. Außerdem führt er mit Unterstützung von Elizabeth Ramirez (die letztes Jahr mit einem Stipendium der Baden-Württemberg-Stiftung in Heidelberg studiert hat) Interviews durch, die transkribiert und inhaltsanalytisch ausgewertet werden.
Neues Straßenfeld: die Plazoleta Rojas Pinilla
Im alten Zentrum Medellíns haben wir ein neues Feld für unsere Arbeit erschlossen, einen kleinen Platz, den das Standbild des ehemaligen Präsidenten Rojas Pinilla in ziert, außen herum Stände der Obstverkäufer, mit dichtem Verkehr und vielen Kindern und Jugendlichen, die hier die Tage und Nächte verbringen. Wir halten uns dort mindestens zweimal in der Woche mit Studentinnen auf. Die Kids, zwanzig bis fünfundzwanzig in wechselnder Zusammensetzung, sind uns (und wir ihnen) schon vertraut. Gleich zu Anfang stellten sich zwei Mädchen vor, die beide Katy heißen, eine vierzehn, die andere sechzehn, schwanger. Die Leute auf dem Platz sind zum Teil äußerst aggressiv zu ihnen. An liebsten würden sie die Kids von hier wegschaffen, in ein Gefängnis sperren, am besten gleich umbringen.
„Paso a paso. (Schritt für Schritt)“ - Reiten mit Straßenkindern
Eine halbe Stunde von Copacabana (bzw. von der Normal) entfernt liegt eine Finca, auf der wir ein neues Teilprojekt starten werden: Reiten mit Straßenkindern. Dafür haben wir die Besitzer der Finca, Noreley und Eugenio, gewonnen. Sie züchten Pferde und haben Erfahrung mit therapeutischem Reiten für Behinderte. In einem Pilotprojekt, das jetzt im März beginnt und vier Monate dauern soll, werden wir jeweils an zwei Tagen in der Woche je 4 Jungen und Mädchen von der Straße mit je 4 Kindern aus einer Einrichtung für besonders gefährdete Kinder (Granjas infantiles) einladen. Sie werden von 4 Studentinnen begleitet (Ana María, Michel, Sandra und Viviana). Dabei ist ein Psychologe der Nationaluniversität, Nicolás Tabón, der das wissenschaftliche Arbeiten der Studentinnen anleitet. Sie sollen jeweils eine Fallgeschichte erstellen (Forschungstagebuch, teilnehmende Beobachtung, Lebensgeschichten der Kinder erstellen / Historias de vida). Außer Reiten, Tierpflege und Spiel steht Unterricht auf dem Plan: Mathematik (Anleitung: prof. Gloria Galvis von der Normal) und Muttersprache (prof. Ana María Cadavit, egresada de la Normal).
Die Straßenkinder sollen wieder Kontakt zu ihren Familien aufnehmen. Ziel des Projekts ist es, dass mindestens die Hälfte von ihnen nach vier Monaten bereit ist, das Straßenleben aufzugeben und in die Schule zu gehen. Durch den Unterricht auf der Finca sollen sie die Voraussetzungen dafür erwerben. Die Plätze wird Granjas infantiles (Schule mit Internat) bereitstellen.
Der Zeitplan sieht folgende Schritte – paso a paso - vor: a.) Einführungsseminar von zwei Tagen; b.) erste Feldbegehung und Kontaktaufnahme mit den Kids im Barrio Triste und auf der Plazoleta Rojas Pinilla; c.) Projektplanung - Finanzierungsplan; d.) Beginn des eigentlichen Vorhabens im August. Dann stoßen drei oder vier Studenten aus Heidelberg hinzu. Ende des Pilotprojekts Anfang Dezember 2007; e.) anschließend Antragstellung bei der Alcaldia Medellín für eine dauerhafte Maßnahme.
Was bewirkt Patio13 wirklich? Empirische Begleitforschung des Projekts
Naturgemäß verfolgen wir mit Patio13 hochgesteckte Ziele. Sie beziehen sich einerseits auf Straßenkinder, andererseits auf Studentinnen und Studenten der Normal wie der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, die für eine nachhaltige pädagogische Arbeit mit Straßenkindern qualifiziert werden sollen. Wer weiß, ob die Ziele, die wir uns gesetzt haben, auch wirklich erreicht werden? Um dies wissenschaftlich zu überprüfen, bereiten wir eine empirische Begleitforschung des Projekts vor. Johanna Martínez, Psychologiestudentin aus Heidelberg und Mitarbeiterin von Patio13, stellt zur Zeit einen Fragebogen zusammen, der den Studentinnen vor Eintritt ins Projekt und dann jedes weitere Halbjahr zur Beantwortung vorgelegt wird. Wir sind gespannt, was die Untersuchung zu Tage fördert.
Kompetenzen und Studienplan für Studenten im Projekt Patio13
Die Schülerinnen der Normal können sich mit etwa vierzehn Jahren (grado octavo) zur Aufnahme in das Projekt bewerben. Sie schließen dafür einen Arbeitsvertrag mit der Direktorin der Normal ab (es können bei weitem nicht alle Interessierten aufgenommen werden) und arbeiten dann sechs Jahre lang (bis zum Abschluss des ciclo complementario) mit. Aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre haben wir nun eine Art Projekt-Studienplan entwickelt. Er beschreibt die Kompetenzen, die die studentischen Mitarbeiter im Laufe des Prozesses erwerben. Der Plan (siehe unten) nennt zu jedem Niveau (bzw. Jahr) (1.) ein Teilprojekt und (2.) die dabei zu erwerbende Kompetenz. Diese Systematisierung gibt eine Grundorientierung für die nächsten Jahre vor und erlaubt es den aus Deutschland hinzustoßenden Studenten und Projektmitarbeitern, ihren Beitrag und ihre Beteiligung sinnvoll zu planen und einzuordnen.
Das Hauptziel des Prozesses ist es, Pädagogikstudentinnen und –studenten so zu qualifizieren, dass sie Kindern und Jugendlichen der Straße durch Bildungsangebote zu nachhaltig verbesserten Zukunftschancen verhelfen können.
Jede Jahrgangsgruppe (Niveau 1 – 6) besteht aus bis zu 25 Studentinnen. Auf jedem Niveau werden, (neben den speziellen) folgende allgemeinen Kompetenzen vermittelt:
Fähigkeit der Annäherung (kognitiv, emotional, körperlich) an den betreffenden Gegenstand (Thema, Situation, Person);
Auswahl und Einsatz von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden;
Entwicklung und Einsatz von Methoden pädagogischer Intervention.
Die hier nur kurz benannten Phasen (Niveaus) des sechsjährigen Prozesses werden an anderer Stelle (Homepage) ausführlicher beschrieben.
Niveau 1 (grado 8):
A)„Fotografia como instrumento de la investigación etnográfica“ / Ethnographisches Fotografieren
B)Theater und Tanz, Körper und Gesundheit
A) Die Studentinnen bereiten sich anhand der Analyse und Kategorisierung von Fotos, die im Projekt entstanden sind, auf den ersten Feldbesuch vor. Sie machen eigene Erfahrungen mit der Kamera (Ich fotografiere – ich werde fotografiert / Wer bin ich? - fotografische Selbstpräsentation mit PPP). Sie problematisieren den Einsatz der Kamera im Feld und analysieren Schwierigkeiten und Chancen dokumentarischer Fotografie.
B) Kollege Wilms baut derzeit in der Nähe von Copacabana eine Theaterschule auf, wo er seine Arbeit mit Straßenkindern fortsetzt und den studentischen Mitarbeitern des Projekts eine Theater- und Tanzausbildung anbietet.
Niveau 2 (grado 9): „Religión de la calle“ / Religion der Straße
Die Studentinnen erarbeiten ein Forschungskonzept, entwickeln Untersuchungs-fragen, wählen Forschungsinstrumente aus (Forschungstagebuch, Historias de vida; Narben auf der Haut als Ausgangspunkt); sie lernen, Interviews durchzuführen, sie zu transkribieren und Inhaltsanalysen anzufertigen. Sie kommen in Kontakt mit der Realität der Straße und machen sich mit Straßenbewohnern vertraut.
Niveau 3 (grado 10): „La calle y ser madre“ / Straßenmädchen werden Mütter
Die Studentinnen beschäftigen sich mit den Themen Freundschaft, Liebe, Schwangerschaft und Geburt im eigenen Umfeld (Fälle alleinerziehender minderjähriger Mütter zum Beispiel unter Mitschülern). Sie nehmen Kontakt mit schwangeren Straßenmädchen im Barrio Triste und auf dem Rojas Pinilla-Platz auf. Über ihre Erfahrungen und Gespräche führen sie ein Forschungstagebuch. Ihre Aufzeichnungen werden in einem begleitenden Seminar analysiert. Im Laufe des Projekts werden Kontakte zu Institutionen und Experten aufgenommen, die sich mit dem Thema obdachloser minderjähriger Mütter und ihrer Kinder beschäftigen.
Niveau 4 (grado 11): „La Calle – Comuniquémonos“ / Alphabetisierung
Kinder und Jugendliche der Straße geben eine eigene Zeitung heraus (bisher sind zwei Nummern von „La Calle“ erschienen) und werden dabei von Studentinnen unterstützt. Sie entwickeln Themen, die auf der Straße interessieren und über die anderen etwas mitgeteilt werden soll. Die Zeitung wird später (Niveau 5) auf der eigenen Druckmaschine vervielfältigt. In diesem Teilprojekt geht es um die Förderung von Schreiben und Lesen (Alphabetisierung) und Selbstvergewisserung. Für die Studentinnen ist dabei Gelegenheit gegeben, Straßenkinder besser kennen zu lernen und didaktische und methodische Fähigkeiten zu erproben und weiterzuentwickeln.
Niveau 5 (grado 12: Erste Stufe im ciclo complementario):
A)„La imprenta“ / Alphabetisierung mit Hilfe der Druckmaschine
B)„Explo de Colombia“ / Elementare Physik für und mit Straßenkindern
A) Mit Straßenkindern, die teils gut, teils wenig oder überhaupt nicht schreiben und lesen können, wird die eigene Zeitung La Calle selbst produziert. Die Druckmaschine wird als pädagogisches Instrument entdeckt. Ein Einführungsseminar führt die Studentinnen in Geschichte und Aktualität des Druckes ein. Die Theorie von Freinet wird auf die Situation von Kindern und Jugendlichen der Straße angewendet. Weitere Publikationen von, mit und über Straßenkinder werden realisiert. Unterstützt wird dieses Teilprojekt von den kolumbianischen Studentinnen, die einen Lehrgang bei der Heidelberger Druckmaschinen AG absolviert haben (Alejandra, Elizabeth und Nataly sowie Katherine). Wissenschaftliche Projektleiter sind Rubén Dario (Universität von Antioquia) und prof. Gloria Herrera (ENSMA).
B) Das von Manuela Welzel und Elmar Breuer, PH HD, seit Jahren entwickelte und durchgeführte Physikprojekt wird mit Straßenkindern und einer Vergleichsgruppe aus Kindern von Granjas infantiles weitergeführt. Die Studentinnen lernen, Naturwissenschaften zu elementarisieren und Lernprozesse für instabile und inhomogene Gruppen zu planen, umzusetzen und kritisch zu analysieren.
Niveau 6 (grado 13: Zweite Stufe im ciclo complementario): “Paso a paso (Schritt für Schritt)” – Reiten mit Straßenkindern
Wie oben angemerkt, werden Straßenkinder durch den Umgang mit Pferden, die Pflege von Tieren und insbesondere durchs Reiten zu sozialem Verhalten, mehr Verlässlichkeit und größerem Selbstbewusstsein angeregt. Gleichzeitig werden elementare Lernangebote sie befähigen, die unterbrochene Schullaufbahn wieder aufzunehmen. Deutsche und kolumbianische Studentinnen und Studenten bereiten zusammen dieses Teilprojekt vor und werden dabei von einem Psychologen und einer Physiotherapeutin begleitet.
Niveau 7 (Escuela de egresados / Ehemalige): Empirische Begleitforschung zum Projekt Patio13
Studentinnen, die Patio13 durchlaufen haben, die Normal und die Universität mit dem Abschluss der Licenciatura beendeten und ein Maestria-Studium an der Universidad de Antioquia aufnehmen (siehe oben), begleiten das Projekt weiter durch regelmäßige Evaluierungen. Als erstes Instrument entwickelt Johanna Martínez derzeit einen quantitativ auswertbaren Fragebogen, der erstmals im April 2007 zum Einsatz kommt, wenn die neu zum Projekt stoßenden Studentinnen des grado 8 befragt werden.
Forschung – Produktion von Lehr- und Lernmaterialien
Die Forschungsvorhaben im Projekt nehmen in letzter Zeit einen erfreulichen Aufschwung. Dies gilt für Kolumbien wie für Deutschland. Zwei Mitschwestern von Sor Sara, Sor Dora und Sor Alba Rocio, schreiben ihre Maestria-Tesis über Mutterschaft auf der Straße und über Auswirkungen des Projekts an der Escuela Normal. Manfred Ferdinand und Anna-Lena Wiederhold sind engagiert beim Erkunden von Aspekten der „Religion der Straße“, dem Thema, dem sie ihre Promotionen widmen. Malte Ottenhausen will sich in seiner medizinischen Doktorarbeit um die Folgen von Traumata bei Straßenkindern kümmern. Adriana Romero setzt, nachdem sie den Promotionsaufbaustudiengang mit einer Prüfung erfolgreich abgeschlossen hat, die Arbeit an ihrer Doktorarbeit über den Vergleich zwischen Patio13 und „Ninos de papel“ in Cartagena und Bucaramanga fort. Etwa neun Wissenschaftliche Zulassungsarbeiten von Studenten der Pädagogischen Hochschule Heidelberg über Aspekte des Projekts sind im Entstehen. Das Material, das bei diesen Forschungsarbeiten zustande kommt sowie interessante Zwischenberichte findet man auf den Forschungsseiten der deutschen und der spanischen Homepage von Patio13.
Die zukünftigen Studenten des Maestria-Studiums in Medellín und des Master-Studiums in Heidelberg und Freiburg können sich bei der Wahl ihrer Forschungsgebiete an den oben genannten Schwerpunkten des Projekts (Ethnographisches Fotografieren, Religion der Straße, Alphabetisierung, Elementare Physik usw.) orientieren und finden, wenn sie sich für Kolumbien entscheiden, leicht ein Forschungsfeld und eine Forschungsgruppe, die sie unterstützt.
Marcela, Nena, Laura
Im letzten halben Jahr hatte man nichts mehr von Marcela gehört und gesehen. Zuvor (im Oktober 2006) erschien sie erschöpft, krank, wie halb tot. Jetzt habe ich sie schon bei meinem ersten Straßengang Anfang März wiedergefunden. In der Nähe der Stierkampfarena, wo die Straßen, die entlang dem Río Medellín und über den Fluss führen, sich schneiden, entstehen unterschiedlich große, von Gras und Bäumen überwucherte grüne Inseln. Dort ist ein bevorzugtes Territorium der Drogenhändler. Marcela hat sich erfolgreich in die Schar der jíbaros eingereiht. Wie durch ein Wunder erscheint sie körperlich wiederhergestellt, kräftig und ist guter Dinge; nur die Stimmbänder sind so sehr angegriffen, dass man sie kaum mehr verstehen kann. Die einzelnen Geländeabschnitte sind streng markiert. Sie verkauft blaue Basucotütchen; auf der anderen Straßenseite sind die Papierchen rosa. Wehe, es lässt sich ein Verkäufer auf der falschen Seite blicken.
Dort drüben sind wir auf Pinki gestoßen. Vor drei Jahren hatten wir den kleinen Jungen aufgegabelt, neu eingekleidet, mit ihm zusammen seine Mutter oben auf den Bergen besucht. Dann hatten wir ihn schließlich überredet, sich in einer Einrichtung für Straßenkinder aufnehmen zu lassen (Patio Don Bosco). Am nächsten Tag war er ausgerissen. Als kleiner jíbaro führt er ein gefährliches Leben. Marcela erzählt, er gehöre inzwischen zu den „duros“, den ganz Erfolgreichen, und sei ein richtiger „capo“ unter den jíbaros geworden. Die einzelnen jíbaros erhalten den Stoff von einem „patrón“, der bezieht ihn vom Besitzer einer „plaza“ bzw. einer übergeordneten Verteilerstelle. Die geschäftlichen Beziehungen sind strengstens geregelt. Eine „bomba“ umfasst zehn kleine, in Papier gefaltete Portionen, die für je 2.000 Pesos verkauft werden. Von einer bomba bleiben dem jíbaro zwei Portionen, die er entweder selbst konsumieren oder zum eigenen Verdienst verkaufen kann. Wer im Rausch selbst zu viel konsumiert und zu wenig verkauft, wird von seinem patrón übel zugerichtet, im Wiederholungsfall umgebracht. Marcela hat, geschickt wie sie ist, ihren patrón (der mit einem Motorrad die Gegend abfährt und überwacht) zum Liebhaber erkoren. Am neunten Geburtstag ihres Sohnes Yeison sind wir mit ihr ins Haus ihrer Eltern (zehn Autominuten entfernt), anschließend zu einer Tante gefahren, wo der Junge lebt. Sie war seit Jahren nicht mehr dort.
Letzten Freitag, 23. März, ist Doris (Nena) umgekommen. Als wir sie 2001 kennenlernten, wohnte sie zusammen mit Marcela, Gorras und El Gurre in einem cambuche (Behausung) unter der Brücke über den Rio Medellín nahe dem Markt Las Minoristas. In „Narben auf meiner Haut“ und auch in „Das blutende Herz“ gibt es zahlreiche Fotos von ihr. Später wurde sie schwanger, sie bekam ihr Kind in einer Notfallklinik und brachte es anschließend bei ihrer Mutter unter. Sie selbst ging wieder auf die Straße. Im Oktober letzten Jahres erschien sie uns ganz verändert. Sie hatte sich herausgeputzt, schöne Kleider angezogen, die Lippen geschminkt und war stolz und selbstbewusst. Letzte Woche gab es hier die für diese Zeit üblichen sturzbachartigen Regenfälle, die den Río Medellín anschwellen ließen und die Giftbrühe (0 Prozent Sauerstoff) aufmischten. Nena wurde beim Austreten von der Flut gepackt und weggerissen. Vier Tage später traf ich ihren Vater, der immer noch verzweifelt und erfolglos den Flusslauf nach ihr absuchte. Auf die gleiche Weise kam zuvor auch Laura ums Leben. Der Sechzehn- oder Achtzehnjährigen waren wir Ende letzten Jahres zum erstenmal begegnet. Sie war schwanger.